Heiligkeit – worin besteht sie?

■ Die zentrale sittliche Forderung des christlich-katholischen Glaubens besteht ja in der Heiligung des eigenen Lebens und dem aufrichtigen Streben nach der Erlangung desselben Standes der Heiligkeit. Denn Gott selbst ist ja Seinem Wesen nach heilig und verlangt in Seinem Gebot von uns, dieselbe Heiligkeit lebensmäßig-praktisch zu erreichen bzw. erreichen zu wollen: „Seid heilig, weil Ich, euer Gott, heilig bin!“ (Lev 11,44); „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“! (Mt 5,48.) Wir können also mit Gott nur dann eine echte und innige Gemeinschaft haben, wenn wir uns konsequent bemühen, Ihm unbedingt in Seiner Heiligkeit nachzueifern – dieselbe geistig-moralische „Frequenz“ einzustellen, auf welcher Er nämlich „sendet“!
Worin besteht aber diese Heiligkeit ganz konkret? Woran kann man sie ausmachen? Wie kann man sie messen? Wie sollen bzw. können wir überhaupt feststellen, dass wir uns wenigstens auf dem richtigen Weg befinden und entsprechende sittlich-positive Fortschritte machen?
Als erstes wird da einem wohl in den Sinn kommen, dass man auf keinen Fall sündigen dürfe. Ja, richtig, jede einzelne Sünde des Menschen bedeutet, dass er in jenem konkreten Fall der betreffenden Versuchung (des Widersachers Gottes) zustimmt bzw. auf sie schlussendlich – vielleicht auch trotz eines vorher stattgefundenen sittlichen Kampfes – doch eingeht und somit im betreffenden Umfang seinen Vorzug der sittlich-relevanten Schlechtigkeit gibt und somit auch die Liebe Gottes entsprechend zurückweist! Und das verträgt sich natürlich nicht mit Gott: „Denn was haben Gerechtigkeit und Gottlosigkeit miteinander zu tun? Was haben Licht und Finsternis gemein?“ (2 Kor 6,14.)
Wie sich also Licht und Finsternis von ihrer jeweiligen Grunddefinition her gegenseitig kategorisch ausschließen, so dass es auch nicht den geringsten Kompromiss zwischen ihnen geben kann, so schließen sich auch das beseligende geistige Licht der Liebe Gottes und die unsittliche Dunkelheit der Sünde gegenseitig aus! „Das ist die Botschaft, die wir von Ihm vernommen haben und euch verkünden: Gott ist Licht. In Ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, wir haben Gemeinschaft mit Ihm, wandeln aber in der Finsternis, so lügen wir und handeln nicht nach der Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie Er im Licht ist, so haben wir miteinander Gemeinschaft, und das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, macht uns von aller Sünde rein“ (1 Joh 1,5-7.).
Also gut, der Mensch begeht keine (schwere) Sünde mehr und bemüht sich sowohl willentlich als auch konkret-praktisch energisch, sie in seinem Leben auszuschließen. Und sollte er dennoch mal sündigen, bereut er diese Sünde aufrichtig und erlangt von Gott – vorzüglich in dem von Jesus dafür eigens gestifteten Sakrament der Buße/Beichte – die echte und restlose Vergebung.
■ Aber ist damit schon alles Wesentliche getan? Ist man da schon ein Heiliger? Wohl kaum, denn zum Stand der Heiligkeit gehört neben dem primären Ausschluss der sittlichen Schlechtigkeit – in sog. negativer Hinsicht – gleichzeitig bzw. gleichermaßen auch noch – eben in sog. positiver Hinsicht – eine willentliche Bejahung Gottes und Seines heiligen Willens seitens der menschlichen Willensfreiheit. Und da diese nicht nur theoretisch vollzogen werden kann, muss sie auch in praktischer Hinsicht konkret im Leben zum Ausdruck kommen.
In diesem Zusammenhang spricht man in der Theologie und dem geistlichen Leben gern von einem entsprechenden Gnadenstand eines Menschen – von seinem (in welchem Umfang auch immer erfolgten) Erfüllt-Sein mit der beseligenden Gnade Gottes, von seiner übernatürlichen Teilhabe an der Realität und dem sittlichen Willen Gottes! Bezeichnenderweise sprach der Erzengel Gabriel Maria bei der Verkündigung der Geburt des Erlösers folgendermaßen an: „Ave gratia plena: Dominus tecum!“ – „Gegrüsset seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir!“ (Lk 1,28.) Nach der Begrüßung also sofort die anerkennende Bemerkung, die zugleich auch ihren betreffenden Gnadenstand anzeigte: „voll der Gnade“!
Wie kann man aber bei uns, allen anderen Christgläubigen, diesen Gnadenstand feststellen? Woran, anhand welcher Kriterien lässt er sich überhaupt messen? Viele fromme Christen, die eben keine schweren Sünden, sog. Todsünden, begehen, würden schon gern wissen, ob sie denn auch in dieser Hinsicht wirklich schon bestimmte positive Fortschritte in ihrem Leben mit Gott gemacht haben – wie eben ihr Gnadenstand aussähe. An welcher Skala lässt sich denn dieser Gnadenstand eines Menschen verifizieren?
■ Vor etlichen Wochen schaute ich mir im Internet eine Dokumentation über einen Arzt an, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein berühmter Chirurg in Russland und später in der Sowjetunion war. Für seinen Glauben wurde er dann nach der Oktoberrevolution von den Kommunisten und Bolschewiken verfolgt und musste einige jeweils mehrjährige Verbannungen in Arbeitslager im Norden und Osten des weiten Landes erdulden.
Da aber seine ärztlichen Fachfähigkeiten und seine entsprechende Erfahrung erforderlich waren, erlaubte man ihm, zwischendurch auch immer wieder auf regulärer Basis in Krankenhäusern ärztlich tätig zu werden. So beschrieb er dann in seinen Briefen und Erinnerungen auch solche Fälle, die ihm wegen der Brisanz der bisweilen entstandenen Situation besonders zu schaffen machten.
So berichtete er, dass er gelegentlich nicht nur die Familienangehörigen seiner direkten Verfolger ärztlich behandeln musste, sondern auch wichtige und schwierige Operationen an den betreffenden KGB- und Lageroffizieren selbst durchführen musste. Er war der Experte und einzig entsprechend erfahrene Chirurg dort und konnte somit die betreffenden dringend erforderlichen Operationen an keinen anderen Arzt delegieren. Somit hing der Erfolg der ganzen ärztlichen Behandlung dieser ganz speziellen Patienten gewissermaßen auch nur von ihm allein ab.
Und sehr wohl hätte er es so hinbekommen können, wenn er es gewollt hätte, dass diese Patienten entweder nicht hätten genesen oder überleben können, ihm aber dennoch kein ärztlicher Fehler aus Absicht hätte nachgewiesen werden können. Man kann nur erahnen, vor welchem großen Dilemma er da seelisch wie moralisch stand und welche inneren Kämpfe in ihm wohl tobten.
Aber dennoch entschied er sich jedes Mal in seinem christlichen Gewissen, als Arzt unbedingt sein Bestes zu geben, damit auch diese Menschen, die ihm eben persönlich auf psychische wie körperliche Weise teilweise sogar hart zusetzten, gesundheitlich wiederhergestellt werden könnten. Er konnte es nicht rechtfertigen, dass diese KGB-Leute wegen seines etwaigen mangelnden ärztlichen Einsatzes dann vielleicht z.B. sogar gänzlich erblindeten.
Und vielleicht ist gerade das ein guter und vergleichsweise sicherer Indikator für den Heiligkeitsgrad und Gnadenstand eines Menschen, dass er eben das Gute nicht nur dann bewusst und voller christlicher Glaubensüberzeugung und persönlicher Hingabe tut, wenn er dafür einen entsprechenden Dank erwarten darf, sondern auch dann, wenn ihm voraussichtlich nicht ebenfalls mit guten Taten erwidert werden wird. Einen wohl noch höheren Gnadenstand hat ein Mensch, wenn er sogar auch dann nicht aufhört, Gutes zu wünschen und zu tun, wenn es sich bei dem (einer Hilfe dringend bedürftigen) Nutznießer seiner guten Tat sogar um einen Menschen handelt, der ihm nur Böses wünscht und tut und von der betreffenden Verfolgung auch nicht durch die zuvor erfahrene Hilfeleistung jenes edlen (und geradezu heiligmäßigen) Helfers ablässt! Das Gute letztendlich nur um des Guten willen tun und wünschen bzw. an der Wahrheit nur um der Wahrheit willen festhalten und keinesfalls wegen irgendeiner allzu menschlichen Erwartung oder egoistischen Berechnung!
■ Sind aber wir ebenfalls dazu willens bzw. dafür bereit? Neigen wir denn nicht alle eher allzu gern dazu, beim Denken und Tun des Guten uns vom Grundsatz leiten zu lassen: Wie du mir so ich dir? Wir sind freundlich Menschen gegenüber und grüßen sie, wenn sie uns gegenüber ebenfalls ein ordentliches Maß an Freundlichkeit und Nettigkeit an den Tag legen. Wir helfen im Falle eines Falles einem Menschen, weil er sich ja zuvor auch uns gegenüber sehr hilfsbereit gezeigt hat. Oder weil wir von ihm in der Zukunft eine solche Hilfeleistung erwarten. Wir achten einen Menschen und erweisen ihm allgemein übliche zwischenmenschliche Aufmerksamkeit (oder sogar einiges mehr), weil ja auch er zuvor nicht gedankenlos oder unachtsam an uns vorbei ging, sondern sich auch seinerseits uns auf die eine oder andere für uns günstige Weise zuwandte.
Sobald uns jemand weniger attraktiv oder nützlich erscheint, oder wenn er nicht immer gleich freundlich reagiert oder reagieren kann, schränken wir unser entsprechendes positives Zugehen auf den anderen entweder stark ein oder stellen es sogar gänzlich ein. Auf diese Weise verfahren wir halt nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir; wenn du mir nicht, so auch ich dir natürlich nicht (mehr)! Wir halten dann diese Vorgehensweise für sehr wohl gerecht und verweisen dabei gern darauf, dass man ja selbst sehr wohl gut wolle, der andere aber dagegen nicht.
Exemplarisch kann man diesen Mangel an richtiger Einstellung am Beispiel des Umgangs mit den eigenen Eltern oder Großeltern darstellen. Wenn und solange man sie braucht und sie einem eine gute Stütze und Hilfe sind, wendet man sich ihnen zu und erweist ihnen auch so etwas wie die gebotene Ehre und Aufmerksamkeit. Sobald man aber auf sie nicht mehr auf die eine oder andere Weise angewiesen ist, tauchen sie immer seltener und immer schwächer auf dem Radar des eigenen Lebens auf – man schiebt sie zunehmend an die Peripherie der eigenen Interessen ab. Sind denn nicht praktisch in jedem Seniorenheim mehrere ältere Herrschaften anzutreffen, die kaum Besuch seitens ihrer Kinder und Enkelkinder erhalten oder sonstige herzerwärmende Aufmerksamkeit erfahren, weil aus ihnen – um es ganz deutlich zu formulieren – meistens finanziell ja nichts mehr herauszuholen ist (sondern sie eher selbst zur Last werden)?
■ Oder wir sind freundlich und hilfsbereit, respekt- und rücksichtsvoll zu einem Menschen, was wir auch wie selbstverständlich als unsere christliche Pflicht ansehen. Sobald aber dieser Mensch in irgendeiner nicht ganz unwichtigen Frage anderer Auffassung ist als wir oder wegen dem oder jenem sogar Kritik an uns übt, „verfinstert“ sich sofort unser Gemüt diesem Menschen gegenüber. Wir fangen plötzlich an, künstlich nach Fehlern dieses Menschen zu suchen und ereifern uns, diese dann auch anderen Menschen gegenüber gern anzusprechen. Besonders gern stellen wir uns dann als arme Opfer dieses ach so bösen Menschen dar.
Oder wir fangen ebenso an, diesem Menschen plötzlich künstlich aus dem Weg zu gehen und die Kommunikation mit ihm entgegen aller gesund-üblichen Normen geradezu verkrampft auf das allerallerminimalste und -erforderlichste einzuschränken. Dadurch wollen wir halt angeblich unseren Unmut zum Ausdruck bringen und jenen Menschen maßregeln. In Wirklichkeit aber tragen wir durch solche erbärmliche Racheaktionen eher nur unsere primitive Wichtigkeit und unseren verletzten Stolz zur Schau. Nein, einen tieferen geistigen Blick und eine höhere Gottverbundenheit gewinnt, wer auch in solchen Situation mehr innere Gelassenheit und christliche Großherzigkeit behält, so dass er nicht innerlich verbittert, sondern trotz allem das von ihm erwartete Gute weiterhin wie selbstverständlich übt und somit über dem Bösen stehen bleibt!
Ein katholischer Christ, der nach Heiligkeit strebt, sollte das Gute eben allein um des Guten, um Gottes willens tun, im extremen Fall sogar auch seinen erklärten Feinden gegenüber und ebenso ohne entscheidende Rücksicht auf deren Reaktion darauf! Ganz speziell sollten wir uns vielleicht darauf fokussieren, dass wir nicht aufhören, unseren sog. Widersachern weiterhin (!) die bisher geübten und vom christlichen Sittengesetz her gebotenen Formen des menschlichen Anstandes und die sich in der betreffenden Beziehung eingestellten Werke der Nächstenliebe zu erweisen.
Führt ja dazu der hl. Paulus folgende tiefe Gedanken aus: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf das Gute bedacht, nicht allein vor Gott, sondern auch vor allen Menschen. Soweit es möglich ist und auf euch ankommt, lebt mit allen Menschen in Frieden. Schafft euch nicht selbst Recht, Geliebte, sondern überlasst das dem Zorngericht. … ‚Wenn deinen Feind hungert, gib ihm vielmehr zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Dadurch sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt.’ Lass dich also nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute.“ (Röm 12,17-21.)
In einem ihrer autobiographischen Bücher erwähnt die hl. Theresia von Lisieux, wie sie im Kloster Schwierigkeiten hatte, Sympathien für eine konkrete Mitschwester zu empfinden. Vieles an jener Nonne stieß sie eher ab und erfüllte sie mit einer Art von Widerwillen. Um dann aber unbedingt zu verhindern, dass sie solchen schlechten Gedanken und Empfindungen erläge und eben schwerer sündigte, entschied sich die hl. Theresia, dann jener anderen Schwester gegenüber umso mehr freundlich und hilfsbereit zu begegnen. Nach einer gewissen Zeit bemerkte dann jene Mitschwester der hl. Theresia gegenüber, ihr falle auf, die Schwester Theresia sei ihr gegenüber besonders nett und entgegenkommend. Das vermag nur ein Christ überdurchschnittlichen Gnadenstandes und erhöhter Heiligkeitsstufe!
Eine Gott wirklich gefundene und echt liebende Seele schaut weniger etwa nur auf den Buchstaben des Gesetzes oder überwiegend rein formell auf irgendeine der eigenen Pflichten beim Ausüben der hehren Gottes- und Nächstenliebe. Nein, sie legt eben in Liebe möglichst ihr ganzes Herz hinein und geht gern über das hinaus, was ihre rein formale Pflicht gewesen wäre! Wahrhaft lieben heißt ja, das Gute und das Richtige um des Guten und Richtigen willens tun und wünschen und dann intentional immer noch ein bisschen mehr dazu geben wollen – keinesfalls aus menschlich-egoistischer Berechnung oder aufgrund eines übertrieben-formalistischen Denkens. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber schafft Leben“! (2 Kor 3,6.)
■ Es sei zugegeben, dass es auch einige legitime Gründe geben kann, bei deren Vorlage die zeitweise Abschwächung des eigenen aktiv-positiven Zugehens auf den anderen auch rechtfertigt werden könnte. Vor allem dann, wenn man vom betreffenden Übeltäter offensichtlich voller Absicht schwer bzw. brutal ausgenutzt werde und darunter dann etwa auch andere völlig unbeteiligte Menschen (wie etwa die eigenen Kinder, Untergebenen oder Schutzbefohlenen) einen nennenswerten Nachteil erleiden sollten. Eine solche Reaktion unsererseits wäre aber nur dann legitim, wenn wir auf diese Weise ein großes Übel für andere verhindern könnten, der Übeltäter dabei nicht ganz unwahrscheinlich einen Impuls zur Besinnung erfahren und keinen nennenswerten bis essentiellen Schaden an Leben und Gesundheit nehmen sollte. Keinesfalls darf aber dabei Rache unsere entscheidende Intention sein.
Jener Arzt in den sibirischen Lagern hat seinen Peinigern vielleicht auch deswegen seine entsprechende ärztliche Hilfe nicht verweigert, weil er wohl selbst gut wusste, dass auch sie unter Befehl standen und somit das eine oder das andere an Bosheiten an den Gefangenen auch deswegen geradezu tun „mussten“, um in diesem blasphemisch-diabolischen System eventuell nicht selbst unter Verdacht zu geraten, sie seien Feinde des Kommunismus, weil sie angeblich zu milde mit den „Feinden des Volkes“ umgingen. Wie schnell hätten sie sonst selbst in einem der zahlreichen sibirischen Lager hinter der anderen Seite des Stacheldrahtes enden können!
Und gerade ein solches Mitleid bzw. Mitempfinden mit den eigenen Verfolgern ist ein weiteres Merkmal eines erhöhten bis sehr hohen Gnadenstandes eines Menschen! Trotz all der zahlreichen und unfassbaren Erniedrigungen, Demütigungen, Lügen, Verleumdungen und Schmerzen, die diesen Arzt in den sibirischen Lagern zweifelsohne an den Rand seiner Kräfte und des vom Menschen überhaupt Ertragbaren führten, ließ er offensichtlich dennoch keine Verbitterung in seinem Herzen zu geschweige denn ließ sich etwa in Verzweiflung zu richtigen Hassgedanken gegenüber seinen brutalen Peinigern hinreißen. Nein, als edler Christ konnte er eine außergewöhnliche und geradezu heroische Leistung erbringen: mal von seinem eigenen (sogar extrem großen) Leid absehen und das geistige Elend vor Gott und dem eigenen Gewissen erkennen, in welchem sich gerade seine Verfolger befanden!
Wer eine solche Tiefe des geistigen Blickes besitzt und praktizieren kann, ruht gleich dem hl. Apostel Johannes im Abendmahlssaal gewissermaßen „an der Brust Jesu“ (vgl. Joh 13,23), weil er wie Jesus, der Göttliche Erlöser, nicht nur einen Blick für die Sündenschuld der ganzen Menschheit hat, sondern auch bereit ist, im Maße, wie es für einen Menschen möglich ist, dafür auch bewusst aus Liebe stellvertretend Büße zu tun! Denn gerade eine solche sich erbarmende Liebe soll einen Jünger Jesu Christi auszeichnen: „Man flucht uns, und wir segnen. Man verfolgt uns, und wir nehmen es geduldig hin. Man verleumdet uns, und wir spenden Trost.“ (1 Kor 4,12f.)
Wenn wir es auch hinbekommen, weniger zu jammern und zu klagen vor anderen über das (manchmal nur vermeintlich) erlittene Unrecht, und stattdessen vielleicht auch ohne Verbitterung zu beten für unsere Opponenten, wird uns dies sicher helfen, einen klareren Blick für die tatsächlichen Ereignisse zu gewinnen und somit auch die bestehenden Probleme ehrlicher zu sehen. Vor allem aber „entkräften“ wir in der Gnade Jesu das Böse durch dessen „Aushöhlung“ mittels unserer praktischen Teilhabe an der erlösenden Liebe Christi!
Wenn aber unsere Einstellung des eigenen Tuns und Wünschens des Guten (Gebet!) undankbaren (aber nun gerade auf unsere Hilfe angewiesenen) Menschen gegenüber nur darin seine Motivation haben sollte, dass man halt nicht einseitig freundlich, entgegenkommend und hilfsbereit sein möchte (wo man dafür aber eine vernünftige Möglichkeit hat und sonst niemand darunter einen Nachteil erleidet), dann würden wir doch klar in einen Widerspruch zum Gebot Christi geraten, der lehrt, man solle gegebenenfalls sogar auch seine Feinde lieben (und somit sozusagen „einseitig“!) und ihnen somit (im Rahmen des Möglichen und Vernünftigen) auch Gutes tun: „Dann werdet ihr Kinder eures Vaters im Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur jene liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben? Tun das gleiche nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Freunde grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das gleiche nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5, 45-48.)

P. Eugen Rissling

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